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Warum Grün?

Ulf Oehmichen ist ein weiteres neues Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen. Diesen von Ihm verfassten Text wollen wir Euch nicht vorenthalten und er unterstreicht, warum  aktiv Politik zu betreiben und sich lokal zu engagieren so wichtig ist.

Warum Grün? Ja, diese Frage habe ich mir lange gestellt und es hat noch länger gedauert, bis ich mich zu meinem Bekenntnis dazu entschlossen habe. Dem Bekenntnis nicht nur so zu wählen sondern auch selbst aktiv zu werden. Ich bin jetzt 37, bin seit 15 Jahren im Berufsleben und dennoch: Warum jetzt? Ich genieße die Vorzüge eines Lebens in einem Land, in dem Bildung grundsätzlich zugänglich ist, das Krieg nur aus der relativen Sicherheit des Abstandes zum Flachbildfernseher kennt und alles in allem den Menschen eine Existenz in einer mit Wohlstand gesegneten Gesellschaft bietet. Mit diesen Gedanken könnte man das Buch jetzt wieder schließen und sagen: Ja, passt doch. Schön, Glückwunsch.

Aber damit endet es nicht. Nur für einen einzelnen flüchtigen Augenblick, der so vergänglich wie auch kurzsichtig ist. Ich sehe den Hass im Internet, die endlosen Tiraden, die losgetreten werden, wann immer so etwas wie Veränderung, Wandel in der Luft liegen. Ich sehe Diskussionen, die keine mehr sind, weil keiner mehr bereit scheint auch den eigenen Standpunkt aufzuweichen, wenn ein Argument nur schwer genug wiegt. Selbst wenn es um Fakten geht. Harte, nicht widerlegbare Tatsachen, von denen man meint, dass sich ihnen niemand verschließen könnte.

Ich habe es anders gelernt. Damals in der Schule. Dass man einander zuhört, dass es nicht um Verhandelbares, sondern letztlich immer die Wahrheit. Das, was man nicht Bestreiten kann. Bei dem auch kein Zetern aufstampfen oder den anderen mit einem "Ja, aber was ist mit..." zu übertönen versucht. Und ich sehe meine Tochter, sie ist jetzt fünf, die mit großen neugierigen Augen Fragen stellt, die wir als Erwachsene als Selbstverständlichkeit abtun, aber dann bemerken, dass sie doch nicht so einfach zu beantworten sind. Weil wir uns an Umstände gewöhnt haben, sie hinnehmen, weil sie für uns selbstverständlich geworden sind.

Und jetzt leben wir seit rund einem Jahr in besonderen Umständen. Einer Zeit der Herausforderungen, die vieles auf den Kopf stellt, was wir als einige der Selbstverständlichkeiten verstanden haben und die uns unter den Füßen weggezogen wurden. Was ich persönlich bei all den Debatten um das weitere Vorgehen noch so schmerzlich vermisse, ist eine Perspektive. Der Blick nach vorne und auf das große Ganze. Es ist aktuell nicht selbstverständlich, dass meine Tochter morgen noch in den Kindergarten darf. Es ist nicht selbstverständlich, dass ich am Samstag mit ihr in die Wilhelma darf, um die Erdmännchen zu suchen. Es ist nicht einmal selbstverständlich, dass ich meine 96-jährige Oma im Pflegeheim besuchen darf. Und ich verstehe, warum das so ist.

Wie viele andere hatte ich viel Zeit um nachzudenken, habe Stunden damit verbracht ziellos umherzustreifen und dabei den Gedanken keimen und wachsen zu sehen, dass das alles vielleicht doch nicht so selbstverständlich ist, wie wir das alle angenommen haben. Und ich habe wieder, wie so oft, an meine Tochter gedacht. An die wütenden, hochexplosiven Diskussionen, die geladene Stimmung und die Unwahrheiten, durch die sich zu wühlen zunehmend anstrengender wird. Das alles kann als Problem unserer Zeit, unserer Streitkultur und einer zumindest im Internet greifbaren Verrohung der Sitten betrachtet werden, aber wenn es auf das überzugreifen droht, was die Zukunft meines wie auch jedes anderen Kindes in diesem Land bedrohen kann, dann hört für mich der Spaß auf.

Es gibt Dinge, die man leugnen kann. Wie aus einem Schamgefühl heraus den Umstand, dass man im letzten Ligaspiel ins Kissen verbissen bis zur letzten Minuten vergeblich mitgefiebert und bittere Tränen vergossen hat. Oder das man den letzten Kinderriegel aus der Box gemopst hat und den Karton trotzdem in der Süßigkeitenschublade liegengelassen hat. Und nein, ich sage nicht, dass man das sollte, aber solche Dinge tun jetzt letztlich niemandem weh (gut, zugegeben, der Kinderriegel verletzt vielleicht eine nach Süßigkeiten lechzende Seele). Aber es gibt Dinge, die man nicht leugnen darf. Weil es grob fahrlässig ist und Blindflug in eine Zukunft bedeutet, die noch weitaus größere Umwälzungen einläuten wird. Aber in jeder Veränderung stecken immer auch Chancen.

In einer vielleicht aktuell erzwungenen Abkehr von dem, was man kennt und gewohnt ist, lodert immer auch ein Funken der Erkenntnis, was wir als Menschen wirklich brauchen. Gemeinschaft, Familie und Freunde. Das, was uns gerade am schmerzlichsten fehlt und gerade jetzt vielleicht übermäßig bewusst wird. Auf uns, aber gerade unsere Kinder und die Generationen nach uns warten noch weit größere Herausforderungen, aber es liegt jetzt an uns, jedem einzelnen von uns, diesen eigentlichen und wichtigsten Kampf auch anzunehmen.

Und ja, ich schäme mich, dafür dass ich das selbst nicht früher erkannt habe. Mich dazu erst aus meiner eigenen Komfortzone bewegen musste und mir selbst eingestehen muss, dass es schon meine Generation hätte sein sollen, die auf die Straße gezogen wäre, um der Politik schon weitaus früher unmissverständlich zu sagen: "Weiter so" ist keine Option. Nicht gegen einen Diskussionspartner, dem jegliches Lamentieren vollkommen gleichgültig ist. Das Klima lässt nicht mit sich feilschen. Es ist an der Zeit das Ruder herumzureißen, aber das können wir nur alle gemeinsam.

Ja, wir können motzen und mosern, aber wir können auch die Ärmel hochkrempeln und den notwendigen Wandel zu einem Motor für eine Gesellschaft machen, die diese erforderlichen Veränderung, das gemeinschaftliche Umdenken, annimmt. Daraus neue Konzepte und Ideen entwickeln, die abermals beweisen werden, wie wandelbar und anpassungsfähig der Mensch und unsere Gemeinschaft sind. Vieles ist schon seit längerem auf dem Tisch, wurde aber aufgeschoben oder beiseitegekehrt, wegdiskutiert oder zurückgestellt. Aber wenn wir die Gelegenheit des Strauchelns unseres altbekannten Wirtschaftssystems jetzt nutzen, um alle gemeinsam im richtigen und nachhaltigen Maß den Neustart zu wagen, können wir aus dieser Zeit etwas formen, dass nicht nur, aber sicher am vehementesten auch Fridays for Future fordert: Eine Perspektive für die Zukunft.

Eine lebenswerte Zukunft für unsere Kinder, in der unsere neuen Selbstverständlichkeiten zum Fundament für eine nachhaltige, von Zukunftstechnologien getragene Gesellschaft werden können. Damit sie Ihr, unser und mein ganz oben beschriebenes Glück teilen können.

Darum nicht wie bisher.
Darum Grün.

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